Den Nihilismus mit Derrida dekonstruieren
Am Donnerstag, den 20. November widmen wir uns dem Nihilismus. Das ist die Annahme, dass das Leben keine objektive Bedeutung hat (existenzieller Nihilismus), dass es keine absolute moralische Wahrheit gibt (moralischer Nihilismus), und dass Wahrheit, Wissen und die Wirklichkeit selbst vielleicht unerkennbar und ohne stabilen Boden ist. Da wir uns schon einmal mit Derrida beschäftigt haben, hat es mich interessiert, wie sich der Begriff "Nihilismus" dekonstruieren lässt.
Der Ausdruck Nihilismus scheint auf den ersten Blick eine klare, abgeschlossene Position zu bezeichnen: „Alles ist bedeutungslos, es gibt keinen Sinn, keine Werte.“ Durch eine dekonstruktive Analyse wird jedoch deutlich, dass bereits im Wort selbst ein Netz von Gegensätzen, Hierarchien und unauflösbaren Spannungen steckt. Wir wenden die verschiedenen Perspektiven der Dekonstruktion an um ein genaueres Bild zu bekommen.
Oppositionen (Gegensätze)
- Nichts vs. Sinn: Nichts wird als die "wirkliche" Grundlage dargestellt (primäre Opposition). Sinn erscheint als bloße Illusion, als Zusatz, dass nichts wirklich seie (Marginalie).
- Nihilismus vs. Wert: Der Nihilismus wird als "objektive" Erkenntnis präsentiert. Werte werden als subjektive Konstrukte abgewertet.
- Negativ vs. Positiv: Das Negative (Verneinung, Leere) wird als philosophisch fundierter Standpunkt dargestellt. Das Positive (Bejahung, Sinnstiftung) wird als naive, nicht‑kritische Haltung abgetan.
- Universell vs. Einzeln: Nihilismus beansprucht Allgemeingültigkeit („alles ist sinnlos“). Einzelne Erfahrungen, kulturelle Unterschiede werden als irrelevant ausgeblendet.
- Objektiv vs. Subjektiv: Der Nihilismus wird als objektive, rationale Analyse dargestellt. Subjektive Empfindungen (Gefühl von Sinn, Hoffnung) gelten als „irrational“ und damit zweitrangig.
Durch das Herausarbeiten dieser Paare wird klar, dass Nihilismus bereits ein hierarchisches Gefüge besitzt: das „Nihil“ wird als legitimer Kern präsentiert, während Sinn, Werte, Positives, das Einzelne und Subjektivität als sekundär, überflüssig oder sogar irreführend gelten.
Das Supplement – Wie das Marginale das Zentrale ergänzt
Nach Derrida ist das, was wir als Supplement bezeichnen, kein bloßer Anhang, sondern unverzichtbar, weil das angeblich „Zentrale“ (hier: das Nichts) nicht vollständig sein kann, solange das Marginale fehlt.
Ohne irgendeine Form von Sinn (auch wenn sie nur als Gegenargument dient) bleibt das Konzept Nihilismus leer. Das „Nichts“ muss erst durch die Idee von „etwas“ definiert werden. Der Begriff Wert fungiert als Gegenpol, der das Nichts erst als „Verneinung von Wert“ sichtbar macht. Jede Behauptung über das absolute Nichts entsteht aus einer Perspektive; die Vielfalt individueller Lebensgeschichten liefert das Material, aus dem das Konzept überhaupt erst konstruiert werden kann. Der moderne Nihilismus ist historisch eingebettet (z. B. Aufklärung, Existentialismus). Ohne diese Vorgeschichte wäre das „Nichts“ nicht mehr als ein leeres Schlagwort. Damit wird das, was zunächst als zweitrangig erscheint zentral für das Primäre.
Différance
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Unterschied: Nihilismus wird nur durch den Unterschied zu Sinn erkennbar und wird nur im Unterschied zu Werten und Begründungen definiert.
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Verzögerung: Sobald wir versuchen, Nihilismus zu fassen, verweisen wir auf weitere Begriffe: Macht, Freiheit, Moral, Existenz, Verzweiflung… Jede dieser Kategorien erzeugt wiederum neue Begriffe, sodass die eigentliche Bedeutung erst nach mehreren Schritten greifbar wird.
Der Versuch, einen abschließenden, fixen Nihilismus zu formulieren, scheitert, weil das Wort Nihil immer wieder auf neue Kontexte, neue Differenzen und damit auf neue Verzögerungen stößt. Der „Nihilismus“ ist also immer deferriert (nachgeschoben).
Iterabilität (Wiederholbarkeit)
Der Begriff kann beliebig oft wiederholt und in völlig unterschiedlichen Kontexten eingesetzt werden. Jede Wiederholung erzeugt neue Bedeutungsfelder, weil das Umfeld (Autor, Publikum, historische Epoche) variiert. Damit ist der Begriff nie abgeschlossen, sondern bleibt offen für unzählige Interpretationen.
Schluss
Damit ist der scheinbar einfache Begriff „Nihilismus“ selbst ein Beispiel dafür, wie Sprache nie ein geschlossenes, endgültiges System bildet, sondern immer ein offenes Feld von Bedeutungen bleibt, das sich ständig neu konstituiert.
Ausblick
Nihilismus hat viel der Abgrenzung zu Sinn und Bedeutung zu tun. Auch Sinn und Bedeutung hängen stark miteinander zusammen. Und Bedeutung kommt von deuten, was wiederum mit Werten zu tun hat. Auf welcher Grundlage werten wir und wie werten wir?
