Was darf und was soll Freundschaft aushalten?
Wir sprachen letzte Stunde über Atmosphären, Kugeln und Blasen. Diese Wörter nutzte der Philosoph Peter Sloterdijk, der selbst als Atmosoph bezeichnet wird. Gegenstand der Philosophie sind Wörter und ihre Bedeutung für uns, so formulierte es der Philosoph Gilles de Leuze. Es kann also sein, dass im vorherigen und im folgenden Text Missverständnisse auftreten, weil wir die Wörter nicht verstehen. Allein, was "verstehen" bedeutet, ist eine philosophische Frage wert. Wir verwenden Wörter mit Leichtfertigkeit: Im folgenden sind dies "Vertrauen", "Liebe", "Freund". Gerade diese Wörter haben es in sich, sie lassen sich nicht in ein paar Worten definieren.
Über den Begriff Atmosphäre kommen wir dann auf das heutige Thema "Freundschaft und: Was darf und soll sie aushalten?". Das Thema eröffnet eine "freundschaftliche" Diskussion (oder führen wir eher einen Dialog?).
Der Begriff "Tribalismus" (engl. tribe, der soziale Stamm) wird erwähnt. Er ist nah an dem Begriff "Bubble" oder "Blase". Innerhalb der Tribe gibt es einen eigene Dynamik mit Rollen und Bezügen untereinander. Bezüge innerhalb der Gruppe können schnell als Gruppenzwang aufgefasst werden. Oder sind diese Bezüge im Grunnde Gewohnheiten und Regeln, damit die Gruppe funktioniert?
An dem Wort "Gruppenzwang" sehen wir dass Worte eine Gefühlsfärbung haben. Vielleicht sind Zwänge oder Gewohnheiten ein und dasselbe? Wir werden vor allem beim Begriff "Freundschaft" merken, dass Gefühl und Vernunft miteinander verwoben sind. Vielleicht ist das ein Indiz dafür, dass das Wort "Freundschaft" nicht so einfach definiert werden kann.
Doch zurück zum "Gruppenzwang in der Bubble". Sich der Bubble zu entziehen ist mit einem hohen Preis verbunden, manchmal erscheint es sehr schwierig, aber ist für die eigene Gesundheit notwendig. Es kann auch notwendig sein, eine Faust in der Tasche zu machen und etwas zu tolerieren, was man selbst nicht für gut heißt. Und Freundschaft ist eine sehr enge Gruppe. Ab wann hört hier die Toleranz auf?
Im Wesentlichen bewegen wir uns beim Thema Gruppe und Freundschaft im Spannungsfeld von Verbundenheit und Freiheit. Sind diese beiden Begriffe diametral entgegengesetzt oder zwei Seiten derselben Medaille? Wenn ich mich dem anderen unterordne, beziehungsweise für das Wohl des anderen einstehe, tue ich etwas für die Verbundenheit zum Preis meiner Freiheit. Oder tue ich dies aus meiner Freiheit heraus, weil ich mit ihm/ihr verbunden sein möchte? Wenn ich mich unterordne, bin ich Opfer. Dieser Begriff ist natürlich sehr emotional gefärbt. Aber "Opfer" meint eben in diesem Sinne: Ich gebe meine Macht an den anderen ab. Und es fiel der Satz "Es ist besser Täter als Opfer zu sein."
Wir sprechen auch darüber, dass es gesunde und ungesunde Beziehungen gibt. Vielleicht lebt eine manche Beziehung einfach von "Täter-Opfer"-Beziehungen, d.h. von Unterordnung und Machtverhältnissen. Oder ist eine Freundschaft immer auf Augenhöhe? Oder hat das Opfer etwas davon, wenn es sich unterordnet (Thema: Co-Abhängigkeit)? Oder ist es vielleicht ein Geben-Und-Nehmen? Der andere bekommt das, vom Freund, was er sich (unbewusst) wünscht? (In diesem Sinne steht die Frage auch im Raum, worin sich Psychologie und Philosophie überhaupt unterscheiden?)
"Was hat man von Freundschaft?", geht es darum? Oder ist Freundschaft bedingungslos? Doch warum hört sie dann manchmal auf? Wir betrachten einmal eine Freundschaft auf Augenhöhe, die gesund ist. Wenn ein Freund etwas "nützen" soll, dann soll er mir doch gut tun. Darum sagt Nietzsche: der Feind ist dein bester Freund. Denn er fordert dich heraus und du wächst an ihm. Manche Freunde hingegen wollen dich nicht verletzen und beschönigen. Zudem geht man bei Freundschaft auch Verpflichtungen ein. Man "gibt", nicht selbstlos, sondern als Zeichen der Freundschaft. Macht es da nicht auch Sinn, einmal beim Freund einen "Advocatus Diaboli" zu spielen, also aus Liebe zum zu Feind werden?
Und damit ist Freundschaft nicht bedingungslos. Das Wort "bedingungslos" bedeutet "Freiheit". Doch es braucht Regeln auch in der Freundschaft. Wenn ich den anderen einfach machen lasse, worauf beruht dann die Verbundenheit? Und letztlich geht meine Freiheit bis zur Grenze, die der andere setzt - und umgekehrt. Und dieses Spannungsfeld ist ein Wechselspiel, welches stets neu justiert werden muss. Das wird umso anstrengeder, je weniger klare, bewusste Regeln es gibt.
Eine Form von Regeln bieten die eigenen Werte. Ein Wert ist das, was "für mich wichtig" ist. Wichtig ist, was mir etwas bedeutet. Zum Bespiel sind Werte "Ehrlichkeit, Vertrauen, Gerechtigkeit". Doch diese Worte sind so schwer zu fassen, wie das Thema Freundschaft an sich. Und diese Werte wandeln sich und sind relativ: Zum einen habe ich mehr Vertrauen als zum anderen. Mir ist Vertrauen wichtig. Vertraue ich mich jetzt dem einen an oder dem anderen? Habe ich dann weniger Vertrauen zum anderen? Vielleicht verletze ich dabei noch meinen Wert "Harmonie"?
Wir lesen Senecas 3. Brief an Lucilius zum Thema "Freundschaft". Seneca war Stoiker, und deswegen war ihm das Spannungsfeld von Vernunft und Gefühl wohl bekannt. Er sagte: "Wähle deine Freunde weise und mit Bedacht." "Freunde sollen lieber erst urteilen, dann lieben." Vernunft zähle vor Gefühl. Oder sind Gefühle eine Sache, ob man sich "riechen" kann? Bei den Stoikern ging es um Mäßigung von Impulsen. Freundschaft gab es schon vor den Menschen, sie gibt es auch im Tierreich. Kann es da überhaupt möglich sein, einen Freund auf Basis der Vernunft "auszuwählen"? Kann man den Begriff "Freundschaft" dann sprachlich überhaupt greifen, oder geht das Thema viel tiefer - ins Unbewusste? Hermann Hesse sagte "Liebe braucht keine Worte."
Man könnte sagen, "Freundschaft beginnt dann, wenn beide sagen können: 'Ich verstehe dich'. Beide Lebenswelten haben schon genug Überschneidung". Ein 'Ich verstehe dich, aber...' ist möglich, man darf verstehen und widersprechen - und damit die eigene Perspektive wahren. Doch, ist "Verstehen" eine Sache "des Herzens"? Oder vielmehr noch der "Vernunft"?
Und kann man Verständnis für jemanden haben, der gegen die eigenen Werte ist? Der eine Moral hat, die der eigenen Moral widerspricht? Oder hat jeder seine Gründe für seine Verhaltensweisen und die kann man so stehen lassen - und es bedarf keiner Moral in der Freundschaft? Im Film gibt es Freundschaften zwischen Kommissaren und Kriminellen. - Kann man vielleicht unter Freunden seine gemeinsame eigene Moral ausleben, die sogar der gesellschaftlichen Moral widerspricht? Akzeptieren sich Freunde so, wie "man" ist? Egal, welche Gründe jeder in seinem Leben gerade hat und welche Ziele er oder sie verfolgt? Oder ist dieses Aktzeptieren selbst eine eigene Moral?
Doch manchmal verändert sich das Umfeld, und damit die Atmosphäre. Man arbeitet nicht mehr zusammen oder geht nicht mehr gemeinsam zur Schule oder zum Hobby. Und es wird anders. Oder kann jeder um die Freundschaft kämpfen und sie erhalten, wenn sich das Umfeld wandelt? Ist das dann nur eine Phase und es kann später wieder weitergehen? Oder ist eine Freundschaft an sich eine Phase, eine gemeinsame Zeit, die vergeht, und die man stets aufrecht erhält.
Am Ende finden wir heraus: Es mag ein paar "Freundschaftslogiken" geben, doch sie sind so individuell, wie die eigenen Werte. Die eigenen Werte führen dahin, sich kennenzulernen: Ein Beginn einer guten Freundschaft mit sich selbst? Dies wird das Thema des kommenden Abends sein. "ich verstehe mich" ist vielleicht eine von den großen Liebesbeweisen an sich selbst, so wie es beim griechischen Orkal hies "Erkenne dich selbst". Ein "Ich will das Leben verstehen" ist demnach ein transzendentaler Liebesbeweis. Dementsprechend wünsche ich eine erkenntnisreiche Woche.
Wer weiter philosophisch stöbern möchte: Der Psychologe Jacque Lacan sagt: Es geht im Leben darum, seinem Begehren treu zu bleiben. (Achtung: "Begehren" ist bei Lacan ein großes Wort. Viele Philosophen entwickeln eine eigene Sprache. Man denke an Worte, wie "Schaum" oder "Blasen" von Peter Sloterdijk.) Ich lasse den Begriff einmal offen zur Recherche. Wer neugierig ist, findet ihn auf Wikipedia unter "Jacque Lacan". Freundschaft hat nämlich auch etwas mit den eigen Wünschen zu tun. Andernfalls lohnt es sich auch, einmal über die eigenen Wünsche zu reflektieren - und auch darüber, was man nicht begehrt. Dabei ergibt sich auch vieles über Freundschaft, und was einem an den eigenen Freundschaften wichtig ist. Denn du wirst sehen, einfach die Wünsche auf Papier zu bringen ist auch ein Prozess, der zeigt, wie das Nachdenken wirkt - in Stille vor dem Papier ist es vielleicht ganz anders, als wenn du darüber mit einem Freund sprichst. Vielleicht magst du auch Freunde fragen, was sie glauben, was dir wichtig ist.
PS: Meine Reflektion über den Text: Vieles ist sehr "dicht" geschrieben, mit großen Worten und einigen Sprüngen. Mein Steckenpferd ist "das Verstehen" und "verstanden werden". Ich beschäftige mich häufig mit Fragen zu "Information" und "Kommunikation". Daher würde ich mich freuen, wenn ihr mir Feedback gebt, wenn ihr etwas nicht vesteht. Dabei lerne ich euch und mich besser kennen. Ich entwickle gerade eine Themenwelt "Was heißt Information?", denn ich merke, dass wir in einer Welt mit Überinformation und falschen Wahrheiten ein paar Fähigkeiten benötigen, um uns zurechtzufinden.
