Erzählungen sind ein kraftvolles Stilmittel um Informationen zu vermitteln, aber auch um Menschen zu manipulieren.
"Komm', erzähl mir eine Geschichte." Schon als Kinder haben wir Geschichten geliebt. Es scheint ganz natürlich zu sein – und war sogar ein entscheidender Vorteil in der Evolution –, dass wir Erzählungen so faszinierend finden. Mythen, Ideologien und Narrative: Darum geht es heute in unserer Philosophierunde im Sommersemester 2025.
Beim letzten Mal haben wir uns mit dem Thema "Anfänge" auseinandergesetzt. Anfänge erleben wir in jedem Moment unseres Alltags – ein idealer Einstieg in die Philosophie als Lebenskunst. Denn hierbei geht es vor allem um die Fragen des eigenen Lebens in Verbindung mit den großen Fragen der Welt.
Am Ende der letzten Stunde stießen wir auf Narrative, die in der Gesellschaft erzählt werden und fortwirken, selbst wenn man ihre Ursprünge (Anfänge) nicht selbst erlebt hat. Ein solches Narrativ kann Sinn und Bedeutung stiften, indem es eine Vorstellung davon vermittelt, wie die Wirklichkeit sein soll. Im Unterschied dazu gibt es Mythen, die nicht vorschreiben, wie etwas sein sollte, sondern erklären, warum etwas so ist, wie es ist.
Ein bekanntes Beispiel für einen Mythos ist die Erzählung vom Turmbau zu Babel: Die Menschen bauen einen Turm, der bis zum Himmel reichen soll. Doch Gott verwirrt ihre Sprachen, sodass sie sich nicht mehr verstehen – daher, so die Erzählung, sprechen wir heute unterschiedliche Sprachen. Ein Beispiel für ein Narrativ ist die Idee vom "Tellerwäscher zum Millionär". Diese Redewendung entspringt der Überzeugung, dass jeder – unabhängig von seiner Herkunft oder seinen sozialen Umständen – durch harte Arbeit, Talent und Durchhaltevermögen aufsteigen kann. Besonders in den USA wurde dieses Ideal populär, gestützt durch Erzählungen über Einwanderer, die mit wenig starteten und es zu großem Wohlstand brachten.
Die erste Frage im Raum ist: Gibt es gute oder schlechte Narrative? Eine Idee ist, dass Narrative nicht moralisch gut oder schlecht sind, sondern lediglich zielgerichtet. Sie können beispielsweise ein Gefühl der Erhabenheit erzeugen, das Zuhörern hilft, sich von anderen abzugrenzen. Aber stoßen wir hier nicht an eine noch grundlegendere Frage: Gibt es gut und schlecht überhaupt? Wir sprachen auch über die Arbeit von Vera Birkenbihl: Anhand von (der eigenen) Geschichte können wir uns vieles viel einfacher merken und assoziativ schneller darauf zugreifen.
Narrative begleiten unser Leben auf vielfältige Weise. Können wir überhaupt ohne Narrative leben? Ein zentrales Beispiel ist das eigene Narrativ, unsere persönliche Lebensgeschichte. Wir erzählen sie uns selbst immer wieder – aber erschaffen wir durch diese Erzählung nicht erst unser Selbst? Können wir unsere eigene Geschichte vielleicht auch anders erzählen, etwa aus der Perspektive eines Freundes?
Auch die Idee, dass wir unser Leben gestalten können, ist ein Narrativ: Sie gibt dem Leben Sinn („Das Leben ist gestaltbar“) und beschreibt eine Vorstellung von Wirklichkeit („Die Welt ist formbar“).
Karl Marx sagte einmal: "Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt aber darauf an, sie zu verändern." Dieses Narrativ („Es kommt auf das Verändern an“) führte uns zu Nietzsche, der mit seinem Konzept des Übermenschen sagte, dass es auch darauf ankommt, sich selbst zu verändern. Hier knüpft der Konstruktivismus an: Die Welt, wie wir sie erleben, entsteht durch unsere Wahrnehmung.
Unsere Sinne formen unsere Realität: Wer gerade ein Auto kaufen will, sieht überall nur Autos. Wer frisch Eltern geworden ist, bemerkt plötzlich überall Kindergärten. Dies hängt mit dem Bestätigungsfehler (Confirmation Bias) zusammen – einer kognitiven Verzerrung, durch die Menschen Informationen so auswählen, interpretieren und erinnern, dass sie ihre bestehenden Überzeugungen bestätigen. Gleichzeitig neigen wir dazu, widersprüchliche Informationen zu ignorieren oder abzuwerten.
Um diesem Denkfehler zu entgehen, müssen wir uns immer wieder selbst hinterfragen: In welchem System, in welchem Narrativ befinden wir uns? Kein System ist per se „besser“ als ein anderes – jede Perspektive ist nur eine von vielen.
Ist es hilfreich, Narrative "abzubauen". Engen Narrative ein? Oder sind sie lebensnotwendig? Erich Fromm behauptete 1990 in seinem Buch über Mythen und Träume, dass Erwachsene das Staunen verlernt haben. Sie hängen in unterschiedlichen Narrativen fest und hinterfragen nicht mehr von selbst, was noch wahr ist. Alles sei bekannt und zur Not fragt man andere (Experten). Wenn es nach Erich Fromm geht, ist das richtige Antworten nicht entscheidend, sondern das richtige Fragen. Dafür benötigt man Vorstellungsvermögen. Wenn etwas mal seltsam ist, wie das Träumen, warum es dann einfach abtun und nicht darüber staunen?
Der Historiker Yuval Noah Harari, sagt: Narrative sind subjektive Erzählungen, mit denen wir ordnen, uns und die Welt, mit denen wir Werte finden, also was uns wichtig ist. Narrative sind also auch mit unserem Wertesystem verbunden. Was einem wichtig ist, daran glaubt man. "Was ich glaube ist die Wahrheit." ist ein interessanter fragwürdiger Ausspruch.
Doch fehlt heute das Wertesystem, das früher noch die Kirche vermittelte? Mit Tugenden, wie Toleranz, Respekt und Gerechtigkeit? Leben wir jetzt in einem wertfreien System? Oder werden uns unbewusst Werte vermittelt?
Wir waren tief im Gespräch, doch der Abend näherte sich dem Ende und wir wollten uns beim nächsten Abend in einer Woche am 13. März mit etwas heiterem befassen. Wir werden über Humor philosophieren. Bis dahin eine gute Woche.